dieciocho

Es ist September. Das heißt die Chilenen sind in dieciocho-Stimmung. „Dieciocho“ meint den 18. September, den Nationalfeiertag Chiles. Wer jedoch glaubt, die Feierlichkeiten würden sich nur auf diesen einen Tag beziehen, der irrt sich. Schon mindestens zwei Wochen vorher beginnen die Menschen ihre Häuser (anscheinend werden die Flaggen an den Häusern je nach politischer Einstellung vor oder nach dem 11. September gehisst), Autos und die Straßen zu schmücken. In der Krippe verhält sich das nicht anders: jeden Tag kommt gefühlt noch eine Girlande oder ein Wimpel  dazu. Manchmal frage ich mich, ob es überhaupt noch einen Fleck gibt, an dem einem nicht die chilenische Flagge oder zumindest die Farben blau, weiß und rot entgegenstrahlen. Die Tias (wörtlich übersetzt  „Tanten“ – hier die offizielle Bezeichnung für die Erzieherinnen in der Krippe)  singen mit den Kindern Lieder mit Texten wie „blanco, azul y rojo, tres colores son, yo los llevo dentro de mi corazón. Banderita mia yo te doy mi amor, para defenderte muy valiente soy!“  („weiß, blau und rot, drei Farben sind es, die ich unter meinem Herzen trage. Meine kleine Flagge, ich gebe dir meine Liebe, ich habe viel Mut, um dich zu verteidigen“). Oft wird in der Sala auch eine Art chilenischer Schlachtruf angestimmt („CHI, CHI, CHI, LE, LE, LE, – VIVA CHILE!!!!). Vor allem die Arbeitswoche vor dem Feiertag steht absolut in dessen Zeichen: in jeder Sala (= Krippen-Gruppe)  wird mit den Kindern ein Tanz eingeübt, auch die Tias proben eine eigene Performance. Am Dienstag, also genau eine Woche vor dem eigentlichen Feiertag werden alle Eltern in die Krippe eingeladen, es treten zwei professionelle Tanzgruppen auf und es gibt typisches chilenisches Essen. An den zwei darauffolgenden Tagen führen jeweils zwei der Salas ihren einstudierten Tanz auf, dann hat in meiner Sala auch noch ein Kind Geburtstag – spätestens jetzt sind alle definitiv in Partylaune. Dieses Jahr fällt der 18. auf einen Dienstag, dadurch sind auch der 17. Und 19. freie Tage – die Aussicht auf fünf Tage „Urlaub“ stimmt sowohl die Einheimischen als auch uns Freiwilligen positiv. Ab dem Wochenende starten dann überall die sogenannten „fondas“. Dort wird typisch chilenisches Essen verkauft, viel Alkohol (Terremotos!! – der Name ist Programm , soviel dazu..) getrunken sowie live-Musik aufgeführt, getanzt und ausgelassen gefeiert.

 

Soweit so gut.

 

Trotz all dem fröhlichen Trubel werfen sich mir Fragen auf, deren Beantwortung mir schwerfällt. Wie es sich anfühlen muss, mit voller Überzeugung zu sagen, man sei „stolz“ auf „sein“ Land, ist etwas, was mich schon in Deutschland des Öfteren schwer beschäftigt hat. Es ist für mich absolut nachvollziehbar, bestimmte Dinge in dem Land, in dem man lebt gut zu finden, andere wiederum zu kritisieren. Aber den Begriff des Stolzes in diesem Kontext zu verwenden ist für mich unverständlich. Ich ärgere mich über mich selbst, weil ich dementsprechend ja offensichtlich durch meine Subjektivität nicht in der Lage bin, mich diesbezüglich in andere hineinzuversetzen. Umso mehr wünsche ich mir hier, wo dieser Nationalstolz so ungehemmt ausgelebt wird, einen Zugang zu dieser Haltung zu finden, um sie zu verstehen.

Bestimmte Gegebenheiten erschweren mir jedoch diesen Prozess. Beispielsweise herrscht am 18. Und 19. September die Pflicht, die chilenische Flagge zu hissen. Wer dies nicht tut, muss mit einer Geldstrafe rechnen, diese fällt noch höher aus, wenn die Flagge falsch gehisst wird. Gerne würde ich wissen: Wie fühlt es sich an, mehr oder weniger zu zumindest optischem Patriotismus „gezwungen“ zu werden? Ist dies überhaupt eine Pflicht, die als störend empfunden wird oder ist diese Klausel irrelevant, weil sowieso jeder seine Flagge früher oder später aus freien Stücken hissen will?

Leider reichen meine Sprachkenntnisse noch nicht aus, um intensive Gespräche über Politik und Gesellschaft führen zu können. Aus einer Unterhaltung mit zwei Tias kann ich jedoch wenigstens folgendes mitnehmen: nach meinem Versuch zu erklären, dass es in Deutschland aufgrund der Landesgeschichte und politischen Situation vermutlich Skandale auslösen würde, wenn öffentliche (Bildungs-)Einrichtungen über und über mit der Deutschlandflagge geschmückt wären und die Kinder Deutschland -„Schlachtrufe“  lernen würden, wird mir geantwortet: Beim dieciocho und den damit verbundenen Festivitäten gehe es eben nur um die Kultur des Landes, die Bräuche (wie z. B.  die Tänze, das Essen usw.) und darum, gemeinsam mit Familie und Freunden zu feiern. Der Tag, an dem die aktuelle und vergangene Politik öffentlich thematisiert wird sei der 11. September (Tag des Militärputsches 1973, an dem es hier regelmäßig zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen Linken, Rechten und/oder der Polizei kommt).

 

Diese Antwort wirft für mich noch mehr Fragen auf: ist es tatsächlich möglich, Kultur und Geschichte klar zu trennen? Und was ist mit der Verhältnismäßigkeit? Reicht ein Tag aus, um einen intensiven, öffentlichen  Austausch über die momentane und vergangene politische Situation zu gewährleisten?

 

Ein interessanter Artikel, an den ich mich im Zuge dieser Überlegungen erinnert habe findet sich hier:

https://www.latercera.com/nacional/noticia/57-alumnos-8-basico-aprobaria-una-dictadura/131606/

Da er leider nur auf Spanisch verfügbar ist, einige Auszüge auf Deutsch:

Durch die International Association for Evaluation of Educational Achievement (IEA) wurde mit Kindern der achten Klasse in Mexiko, Kolumbien, der Dominikanischen Republik, Peru und Chile eine Studie zur politischen Bildung durchgeführt. Auf die Frage, ob man einem diktatorischen Staat zustimmen würde, wenn er Ordnung und Sicherheit mit sich brächte, antworteten 57% der chilenischen Schüler positiv, während der allgemeine Durchschnitt in den anderen Ländern 69% erreichte. Die Umfrage befasste sich auch mit der Wahrnehmung von Gewaltanwendung. In diesem Punkt gaben 72% der befragten Schüler an, dass Dialog und Verhandlung die einzige Möglichkeit sei, Frieden zu erreichen. Im konkreten Fall Chile ist der Anteil junger Menschen die Dialog und Verhandlungen zustimmen, von 80% im Jahr 2009 auf 68% im Jahr 2016 gefallen. Der Aussage, dass „um Frieden zu erreichen, der Zweck die Mittel rechtfertigt“, stimmten 61% zu.

Es ist natürlich positiv, dass Chile das Land mit dem geringsten Anteil an Zustimmung auf die Frage nach dem diktatorischen Staat ist, aber die Tatsache, dass jeder zweite Schüler seine eindeutige Zustimmung äußert ist doch eklatant.

 

Ich fühle mich nicht in einer Position, aus der heraus ich die Intensität der Aufarbeitungs- und Aufklärungskultur in Chile in Anbetracht seiner eigenen Geschichte bewerten kann.

 

Was ich jedoch sagen kann ist, dass ich bis zur dreizehnten Klasse nicht die leiseste Ahnung von den Verbrechen hatte, die in Chile im Zuge der Militärdiktatur begangen wurden. Erst letzte Woche habe ich durch den Film „Colonia Dignidad“ von Benjamin Herrmann davon erfahren, wie auch Deutschland in grausame Menschenrechtsverletzungen verwickelt war, die in Chile stattgefunden haben. Trotz dieser geschichtlichen Verstrickungen wusste ich, bis ich den Film gesehen hatte nichts über diese Gewaltverbrechen und war bzw. bin dementsprechend geschockt.

Auf der anderen Seite wurde meinem Mitbewohner Anton hier schon zweimal der Hitlergruß gezeigt, auch wurden wir schon während mehr oder weniger oberflächlichem Smalltalk mit Einheimischen gefragt, ob wir Nazis seien. Mal davon abgesehen, dass mich das wütend macht und auch irgendwie schockt, zeigt es mir dennoch: über die deutsche Geschichte und auch politische Vergangenheit weiß man auch über Ländergrenzen hinweg Bescheid. In Bezug auf Chile frage ich mich, ob mehr Aufarbeitung und ein intensiveres „sich kritisch auseinandersetzen“ mit seiner Vergangenheit nicht nur innerhalb , sondern auch außerhalb seiner Landesgrenzen wichtig wäre.

In Anbetracht all dieser Überlegungen fällt es mir nicht unbedingt leicht, den dieciocho so wie vermeintlich alle anderen scheinbar ohne Zweifel zu genießen. Die Festivitäten machen definitiv Spaß und die gute Laune steckt mich natürlich auch an. Aber immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich anfange, die gute Laune und Ausgelassenheit zu hinterfragen.

Ich hoffe, ich werde im Laufe der Zeit, wenn sich meine Sprachkenntnisse  verbessern, die Gelegenheit zu einem intensiveren Austausch über diese Gegebenheiten haben, der mir hoffentlich  einen Perspektivenwechsel eröffnet und mir die Möglichkeit gibt, die Geschehnisse hier aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

Für den Moment verbleibe ich mit gemischten Gefühlen.

Emily

 

 

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