zweiter Quartalsbericht

Santiago de Chile, 03.02.2019

 

Ich sitze im Flugzeug auf meinem Weg nach Argentinien. Zwei Wochen Urlaub schaffen psychischen und physischen Abstand zu meinem Alltag in Santiago de Chile. Vielleicht ist diese Entfernung eine gute Gelegenheit die vergangenen sechs Monate mit all ihren Eindrücken und Erfahrungen vor meinem inneren Auge Revue passieren zu lassen. Es ist Februar. Und damit Zeit für meinen zweiten Quartalsbericht.

 

Grundsätzlich hat sich seit meinem ersten Bericht im November nicht viel verändert. Ich lebe nach wie vor in Santiago de Chile, arbeite in der Sala Cuna Naciente, teile mir ein Zuhause mit meinen wunderbaren Mitbewohnern Jana, Johanna und Anton und versuche jeden Tag Neues zu lernen und mich mit dem Lebensfluss, der Kultur und den Menschen die mir hier begegnen auseinanderzusetzen.

Trotz der Konstanz der grundlegenden Rahmenbedingungen, gibt es einen Aspekt, der sich seit meiner Ankunft hier vor sechs Monaten deutlich verändert hat: meine eigene Perspektive auf diese Elemente.

 

Bevor ich meinen Freiwilligendienst begonnen habe, wusste ich ehrlich gesagt nicht viel über Chile. Dass ich überhaupt hier sein kann, war großes Glück, sodass ich meine Zusage schnell ausgesprochen hatte, ohne mir großartige Gedanken zu machen wo es mich am Ende tatsächlich hin verschlagen würde. Das Resultat dieses spontanen Glücksgriffs war ein relativ unvoreingenommenes Fallenlassen in eine neue Kultur, ein fremdes Land. Ich wusste nicht, was „typisch chilenisch“ sein könnte. Allmählich hat sich aus vielen Einzelteilen ein Konglomerat zusammengesetzt, welches mein bisheriges Bild von Chile und seiner Kultur repräsentiert.

Mein erster Eindruck von Santiago ist mit der Zeit verflogen. Zu Beginn habe ich mich oft gefragt, warum ich eigentlich hier bin. Ja, natürlich ist unsere Wohngegend vielleicht etwas ärmer. Heruntergekommen und dreckiger als andere Orte, aber im Grunde scheint es doch niemandem groß an etwas zu fehlen. Alle haben Kleidung, zu essen, fahren dicke SUVs. Der Kindergarten ist gut ausgestattet, wir haben teilweise fast schon zu viel Spielzeug. Wo ist die Armut? Wo sind die Probleme, von denen z. B. im Vorbereitungsseminar die Rede war?

Mittlerweile stellen sich mir diese Fragen nicht mehr so häufig. Mir sind bestimmte Unterschiede zwischen Deutschland und Chile bewusst geworden, die zu Beginn, aufgrund des „europäischen“ Eindrucks, den Chile teilweise erweckt, nicht zu erkennen waren. Mit voranschreitenden Sprachkenntnissen und vertrauteren Beziehungen zu meinen Mitarbeiterinnen habe ich einen anderen Einblick in eine Welt bekommen, die sehr bemüht darum ist, ein gewisses Bild von sich selbst aufrechtzuerhalten.

 

Wenn ich mir die Frage stelle, „was ist für mich typisch chilenisch?“, dann denke ich z. B. an die „Chilenismos“ (cómo estaiiii?“), das Essen (Sopaipillas, Humitas, Pebre, usw.), die Lautstärke (das beste Beispiel ist unser Nachbar, seine Musik ist meistens so laut, dass in meinem Zimmer alle Möbel vibrieren). Manches gefällt mir sehr gut (wie z. B. das Essen) aber andere Aspekte bringen mich immer wieder zum Nachdenken. Zum Beispiel das Thema Umweltverschmutzung. Der Müll wird hier einfach auf die Straße gekippt und dann von der Müllabfuhr abgeholt, Recycling scheint den Menschen hier ein Fremdwort zu sein. Auf dem Markt werden einem die Plastiktüten fast schon hinterhergeworfen und im Supermarkt findet man die meisten Produkte mehrfach in Folie verpackt. Der Smog liegt oft wie ein wabernder Mantel über der Stadt. Manchmal vergesse ich, dass  bestimmte Berggipfel überhaupt existieren, bis ich sie an einem klaren Tag dann doch wieder entdecken kann.

Eine weitere Erfahrung, die ich zwar auch in Deutschland gemacht habe, dort jedoch in sehr viel schwächerer Form, ist,  dass ich hier allein aufgrund meines Geschlechts anders behandelt werde. Gehe ich beispielsweise auf meinem Weg zum Sport abends alleine die Straße entlang werde ich von sämtlichen Häuserecken angesprochen, mir wird hinterhergerufen usw. Gehe ich denselben Weg, um dieselbe Uhrzeit mit meinem Mitbewohner Anton, passiert nichts dergleichen. Auch die Thematik häusliche Gewalt gegenüber Frauen ist mir hier im Arbeitskontext schon des Öfteren begegnet: immer wieder kommen Mütter oder auch Kolleginnen, mit deutlichen blauen Flecken (bzw. Augen) in die Kinderkrippe.  

Darüber hinaus gibt es noch einen weiteren Sachverhalt, der mir immer wieder Kopfzerbrechen bereitet: es macht den Anschein, als herrsche hier ein allgegenwärtiges Nachstreben in Richtung eines US-amerikanischen Vorbildes. Wie komme ich zu dieser Annahme? Wie gesagt, oberflächlich wird hier stark darauf geachtet, einen wohlhabenden Eindruck zu erwecken. Dies spiegelt sich im Konsumverhalten wieder: durch protzige SUVs, gemachte Fingernägel, Schmuck oder übermäßiges Parfümieren wird sich darum bemüht, nach außen nicht „arm“ zu wirken. Die meisten meiner Tías haben große Geldsorgen, sind verschuldet usw. Trotzdem haben sie in einem sonst eher zweckmäßig eingerichteten Wohnzimmer einen riesigen Flatscreen-TV hängen und die Söhne spielen mit den neuesten Konsolen von Nintendo und Sony. Einfach eine andere Kreditkarte zu benutzen, wenn mit der anderen nicht mehr bezahlt werden kann, ist hier keine Seltenheit. Eine Karte begleicht die Schulden der anderen.

70 Prozent der chilenischen Haushalte sind verschuldet.

„Warum?“ frage ich mich.

Warum wird materiellen Dingen hier so viel Wert beigemessen? Warum ist die Außenwirkung hier anscheinend so wichtig, dass eine Illusion von Wohlstand erzeugt wird, die sich wie eine Staubschicht über alles und jeden legt, beim leisesten Windhauch jedoch verfliegt und das wahre Bild zum Vorschein kommen lässt?

Ein Erklärungsversuch (natürlich rein subjektiv und aus sehr viel Unwissen heraus): möglicherweise trägt der (Neo-) Liberalismus Schuld, der in Chile seit längerem die Wirtschaft prägt. Ein System, welches vermeintliche Freiheit predigt. Jeder kann es schaffen. „Vom Tellerwäscher zu Millionär“. Wenn man nur hart genug dafür arbeitet.

Außerdem schafft Kaufen kurzfristige Bedürfnisbefriedigung. Vorübergehende Ablenkung von Kummer und Sorgen. Und vor allem eines: es befriedigt oberflächlich den Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit.

Haben die Menschen einfach Angst, verurteilt und ausgeschlossen zu werden, wenn sie nach außen keinen Wohlstand zur Schau stellen können? Fürchten sie, Opfer zu werden von Vorurteilen á la sie würden nicht hart genug arbeiten und seien selbst schuld, an ihrer finanziellen Lage? Sehnen sie sich einfach nach Zugehörigkeit und Anerkennung?

Die Frage ist: kann die Anschaffung eines Konsumgutes die Kluft schließen, der sich hier zwischen Arm und Reich auftut? Kann das gesellschaftliche Auseinanderdriften dadurch gestoppt werden?

Große Firmen und Marken geben dieses Versprechen. Und viele der Konsumenten um mich herum scheinen ihnen zu glauben bzw. es sich einfach so sehr zu wünschen.

Ich bezweifle es. Aber ich kann es auch nicht ändern und es ist schade zu sehen, dass scheinbar aus den Augen verloren wird, was wirklich wichtig ist im Leben. Wie kann es sein, dass die „Konsumwelt“ mit all ihren Versprechen, die am Ende doch nur kurzfristige Bedürfnisbefriedigung gewährleisten, neue Standards setzt und jetzt bestimmt, was man braucht um glücklich zu sein?

Denn gleichzeitig fühle ich hier so oft, dass schon ein Lächeln ausreicht. Eine Umarmung, ein „Wie geht es dir?“, eine Unterhaltung oder ein geteiltes Mittagessen. Abseits von materiellen Maßstäben finde ich heraus, wer eine Person wirklich ist. Erst dadurch, dass ich auch von seinen Problemen und Träumen weiß, wird mir jemand wirklich sympathisch. Der Besitz spielt keine Rolle. Was so kitischig und abgedroschen klingt, ist dennoch wahr und es beunruhigt mich, das Gefühl zu haben, dass diese so einfache Folgerung hier anscheinend immer mehr aus den Augen verloren wird.

Übrigens: Chile wurde von der Heritage Foundation als wirtschaftlich stärkstes Land der lateinamerikanischen Länder gewählt und gilt gleichzeitig als das Land mit der höchsten Depressions- und Selbstmordrate in Lateinamerika. Ist das der Deal, der für eine starke Wirtschaft eingegangen wird?

Ich sehe mich nicht in einer Position, aus der heraus ich über die Menschen oder das System hier urteilen kann, mit der Konnotation, zu wissen, wie es besser gemacht werden könnte. Wäre die Lösung so einfach gäbe es bestimmte Probleme vermutlich nicht.

Im Gegenteil: die Beobachtungen, die ich hier vollziehe, wecken in mir einfach den Wunsch, zu verstehen, was getan werden könnte, um eine Veränderung zu erreichen.

Doch trotz allem mache ich hier auch ganz andere Erfahrungen. Natürlich beschäftigen mich die (Geld-)Sorgen meiner Arbeitskolleginnen, andererseits bewundere ich aber auch oft ihre Stärke und ihren Zusammenhalt. Ich bin froh, dass ich mich gut mit ihnen verstehe und auf diese Art einen besseren Einblick in die chilenische Lebensweise bekomme.

Nun steht für den Februar erstmal meine Reise bevor. Zwei Wochen Argentinien und Bolivien, danach dann das Zwischenseminar mit allen Freiwilligen in Punta de Tralca.

Im März beginnen wir wieder zu arbeiten. Ich würde gerne mein Spanisch auch grammatikalisch noch weiter verbessern. Da ich merke, dass sich meine Grammatikkenntnisse nur durch das Sprechen nicht so entwickeln, wie ich es gerne hätte, werde ich mich wohl intensiver mit Lernlektüre auseinandersetzen müssen. Außerdem bin ich gespannt, wie ich ab März mit meinem neuen Equipo zusammenarbeiten werde, denn die Tias wurden neu auf die Salas verteilt. Bis jetzt habe ich ein ganz gutes Gefühl, was unser neues Team für die Sala Mayor C betrifft. Ich werde mit den ältesten Kindern zusammenarbeiten, die ca. 2 Jahre alt sind, das liegt mir mehr als die Arbeit mit den jüngeren. Ab Arbeitsbeginn bleiben mir dann tatsächlich nur noch zehn Wochen. Langsam wird mir schon ein bisschen mulmig zumute. Fragen, die bisher ganz weit weg erschienen, wie z. B. dass ich mich damit auseinandersetzen muss, wo und was genau ich eigentlich studieren will, müssen nun wohl oder übel langsam in Angriff genommen werden. Ich hoffe trotzdem, dass ich mich in der mir verbleibende Zeit nicht durch zu viele Zukunftsantizipationen ablenken lasse. Noch bin ich hier, und das will ich nutzen und genießen.

Ich bin gespannt, was die Zeit bringt. Und ich freue mich auf die kommenden Monate.

Denn: „Alle Wege führen zum selben Ziel: zur Mittteilung dessen, was wir sind. Und wir müssen die Einsamkeit und die Wildnis, die Isolation und das Schweigen durchqueren, um den verzauberten Ort zu erreichen, wo wir unseren tollpatschigen Tanz tanzen und unser schwermütiges Lied singen können. Aber in diesem Tanz oder in diesem Lied vollziehen sich die ältesten Riten des Bewusstseins: des Bewusstseins, dass wir Menschen sind und an ein gemeinsames Schicksal glauben.“ (Pablo Neruda)

 

Auf bald.

Emily

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Oliver Hauss (Freitag, 08 März 2019 20:58)

    Liebe Emily,
    Toller Blog mit sehr lebendigen Innenansichten. Vielen Dank
    Oliver

  • #2

    Winfried Bader (Samstag, 16 März 2019 16:18)

    Liebe Emi,
    ich habe deinen Eintrag heute deiner Oma vorgelesen. Sie ist (wie ich) sehr beeindruckt von deinen Gedanken, von der Tiefe und Reflektiertheit. Wir schicken dir alle guten Gedanken aus Sonderbuch :-)
    Liebe Grüße von deiner Oma. Sie bewundert deine gesunden Standpunkte.